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„Sie laden einen nicht zu sich nach Hause ein“: Bieke Depoorter über das Überwinden von Grenzen

A family of four sit in a car with a creamy-coloured leather-upholstered interior, looking at Christmas lights, some of which are reflected in the windscreen of the car.
Eine Familie betrachtet Weihnachtslichter und scheint dabei die Fotografin vergessen zu haben, die sie eben erst getroffen hat. „Die Nacht ist für mich etwas Besonderes“, sagt Bieke. Aus „I Am About to Call It a Day“, aufgenommen in den USA im Dezember 2010, mit einer Canon EOS 5D Mark II mit einem Canon EF 17-40mm f/4L USM Objektiv. © Bieke Depoorter/Magnum Photos

Einige Fotografen entwickeln über Jahre oder gar Jahrzehnte hin allmählich eine enge Beziehung zu ihren Motiven. Doch die belgische Fotografin Bieke Depoorter verfolgt bei ihren persönlichen Projekten den entgegengesetzten Ansatz. Für ihre Arbeit ist die Canon Botschafterin durch Russland, die USA und Ägypten gereist. Jede Nacht verbrachte sie in der Wohnung eines Fremden und dokumentierte ihre Erfahrungen.

Sie hat Menschen im Bett eingekuschelt oder nackt in der Sauna fotografiert – oder das Chaos in den Zimmern von Teenagern und die täglichen Routinen von Familien beim Fernsehen. Ihre Bilder sind intensiv und intim und geben Einblicke in Wohnräume, die einem normalen Beobachter entgehen könnten. Die ungewöhnlichen Rahmenbedingungen sorgen dafür, dass die Hemmschwelle ihrer Motive sinkt und sie sich öffnen.

Eine Familie betrachtet Weihnachtslichter und scheint dabei die Fotografin vergessen zu haben, die sie eben erst getroffen hat. „Die Nacht ist für mich etwas Besonderes“, sagt Bieke. Aus „I Am About to Call It a Day“, aufgenommen in den USA im Dezember 2010, mit einer Canon EOS 5D Mark II mit einem Canon EF 17-40mm f/4L USM Objektiv. © Bieke Depoorter/Magnum Photos
Christian Ziegler’s

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„Jeder weiß, dass ich am nächsten Morgen abreise und wir nur wenige Stunden gemeinsam verbringen“, erklärt Bieke. „Es ist einfacher, Geheimnisse einem Fremden zu erzählen – jemandem, dem man nie wieder begegnen wird – als einem engen Freund, den man jeden Tag sieht. Die Nacht, wenn die Menschen bei sich zu Hause sind, ist für mich etwas Besonderes. Wenn es dunkel wird, ändert sich die Atmosphäre. In gewisser Weise werden die Menschen authentischer. Auf der Straße geben sie vor, jemand anderes zu sein. Das tue ich selbst auch. Aber wenn man nach Hause kommt, fällt diese Maske ab.“

Bieke entwickelte diese Methode des Reisens und dokumentarischen Fotografierens zunächst aus der Not heraus, während sie ihren Masterstudiengang für Fotografie an der Akademie für Schöne Künste in Gent, Belgien, absolvierte. Für ihre Abschlussarbeit reiste sie nach Russland. Sie hatte eine Notiz dabei, die ein russisches Mädchen aus dem Internet für sie geschrieben hatte: „Ich bin auf der Suche nach einer Unterkunft für die Nacht. Ich möchte nicht in einem Hotel übernachten, weil ich nicht viel Geld habe und gerne sehen würde, wie die Menschen in Russland leben. Darf ich vielleicht bei dir übernachten? Vielen Dank für deine Hilfe!“

Für das Projekt mit dem Titel „Ou Menya“ erhielt sie Anerkennung und gewann im Jahr 2009 den Magnum Expression Award. Sie kam im Jahr 2012 im Alter von nur 25 als Nominierte zu der Agentur und ist inzwischen ein vollwertiges Mitglied.

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Biekes Ansatz des Fotografierens von Fremden ist unkonventionell. Sie sagt jedoch: „Es ist einfacher, Geheimnisse einem Fremden zu erzählen – jemandem, dem man nie wieder begegnen wird – als einem engen Freund, den man jeden Tag sieht.“ Aus „I Am About to Call It a Day“, aufgenommen im November 2011 mit einer Canon EOS 5D Mark II mit einem Canon EF 17-40mm f/4L USM Objektiv. © Bieke Depoorter/Magnum Photos

Als sie diese Strategie in den USA für ihre Serie „I Am About to Call It a Day“ im Jahr 2010 wiederholte, machte sie eine ganz andere Erfahrung. Bieke merkte, dass es in Amerika schwerer war, auf diese Weise zu arbeiten, als in Russland, wo die Sprachbarriere dafür gesorgt hatte, dass sie beobachten durfte, statt Smalltalk zu führen.

Dennoch gelang es Bieke, die Amerikaner, bei denen sie übernachtete, auf unaufdringliche Weise zu fotografieren und intime Augenblicke festzuhalten. Einige Bilder der Sammlung sind beinahe voyeuristisch, zum Beispiel die Aufnahme der Frau, die im Mondschein in einer Steinwanne badet (siehe oben) und Porträts von Paaren, die sich umarmen. Auch Beziehungen, Routinen und Traditionen innerhalb von Familien werden ins Rampenlicht gerückt. Beispiele dafür sind Biekes Aufnahme einer Familie, die sich die Weihnachtsbeleuchtung in der Nachbarschaft ansieht (oben) und Fotos von Geschwistern, die in ihren Zimmern entspannen.

In a room with bare walls and worn woodwork, a bed is piled with patterned bedding. A child sits in the bed, looking at the window as a pigeon flies towards it. Six other pigeons have settled on the bed and door frame.
Zur Überwindung der Sprachbarriere und aus Sicherheitsgründen reiste Bieke mit einer Dolmetscherin durch Ägypten, um ihre Übernachtungen in den Wohnungen Fremder zu vereinbaren. Es war unerlässlich, dass beide Seiten sich vertrauten. Aus „As It May Be“, aufgenommen im März 2012 in Kairo, Ägypten, mit einer Canon EOS 5D Mark II mit einem Canon EF 17-40mm f/4L USM Objektiv. © Bieke Depoorter/Magnum Photos

Im Rahmen ihres folgenden Projekts reiste sie zwischen 2011 und 2017 acht Mal nach Ägypten. So entstand das Buch „As It May Be“ (in englischer Sprache veröffentlicht im Februar 2018 von Aperture). Bieke reiste zunächst für einen Auftrag nach Ägypten, doch als ihre Arbeit abgeschlossen war, blieb sie. Sie war fasziniert von dem Misstrauen der Bevölkerung, das besonders ausländischen Journalisten nach der Revolution im Januar 2011 entgegenschlug.

Ich wollte versuchen, Vertrauen an einem Ort zu finden, an dem es kein Vertrauen gibt.

„Ich wollte versuchen, Vertrauen an einem Ort zu finden, an dem es kein Vertrauen gibt“, erklärt sie. „Ich hatte das Gefühl, dass die Menschen ihr Privatleben wirklich schützen wollten. Auf der Straße sind sie freundlich, doch sie laden einen nicht zu sich nach Hause ein.“ Um dieses Problem zu lösen, holte sie sich Unterstützung bei einer Belgierin, die in Ägypten lebte und fließend Arabisch sprach. „Wir reisten zusammen in kleine Städte und wanderten den ganzen Tag herum, bis wir jemanden fanden, dem wir vertrauten und der uns vertraute. Sobald wir dann beide vereinbart hatten, dass ich dort übernachten würde, ließ sie mich allein.“

In a room lit by warm sunlight, three women and three children relax after a meal. A tray with empty plates and cutlery is on the carpeted floor and the back of a TV faces the camera. A small child sits on the lap of woman having her hair brushed, while the other children sit and the other women sip drinks.
Bieke glaubt, dass ein Zuhause etwas Besonderes ist. Sie ist fasziniert von dem, was hinter dem öffentlichen Bild liegt, das die Menschen außerhalb ihres Zuhauses aufrechterhalten. Aus „As It May Be“, aufgenommen im September 2013 in Kairo, Ägypten, mit einer Canon EOS 5D Mark II mit einem Canon EF 24-70mm f/2.8L II USM Objektiv. © Bieke Depoorter/Magnum Photos

Nachdem Bieke der Meinung war, dass sie genug Fotos aufgenommen hatte, erstellte sie einen Buchentwurf. Allerdings war sie mit ihrem Werk nicht zufrieden. „Es schien mir nicht richtig, die Fotos in diesem Format zu veröffentlichen, da es nicht die Komplexität des Landes zeigte“, erinnert sie sich. „Viele Menschen in Ägypten mögen einfach keine Fotos oder wollen nicht zeigen, wie das Leben in ihren Wohnräumen aussieht. Ich zerbrach mir wirklich den Kopf darüber, wie ich diese Probleme lösen könnte.

Ich entschied mich, mit dem Buchentwurf zurück nach Ägypten zu gehen und ihn den Menschen auf der Straße zu zeigen. Nicht den Menschen, die ich fotografiert hatte, sondern anderen. Ich zeigte den Entwurf den Mitarbeitern einer Bank, Bauern und Menschen, die weder lesen noch schreiben konnten. Ich zeigte ihn sowohl sehr aufgeschlossenen als auch sehr konservativen Menschen. Ich ließ sie das Buch ansehen und ihre Kommentare direkt auf die Fotos schreiben.“

A page from Bieke's book, As It May Be, shows some of the comments written on a photo of a girl standing against a wall in a corridor, with her parents on the other side of the wall, in the living room. Her father sits on a sofa, touching his head, while her mother lies on the floor, her head on a pillow.
Als Bieke ihr Buch „As It May Be“ Menschen in Ägypten zeigte, begannen diese, Kommentare auf die Fotos zu schreiben. Andere schrieben Antworten auf einige der Kommentare, wodurch eine Unterhaltung auf der Seite und um die Fotos herum entstand. Die Originalaufnahme wurde aufgenommen mit einer Canon EOS 5D Mark II mit einem Canon EF 17-40mm f/4L USM Objektiv. © Bieke Depoorter/Magnum Photos
English typed words sit on top of the Egyptian Arabic words that were written in Bieke's book, As It May Be. The comments include "My dad's always sitting like this," "Where there are conflicts between the mother and father, it affects the children," and "How did he agree to let his wife be photographed like this?"
Die Kommentare, die in Biekes Buch „As It May Be“ geschrieben wurden, sind teils aufschlussreich, teils verärgert und teils amüsant. Sie passen in das bunte Mosaik von Geschichten, die die Bilder selbst erzählen, wie diese Übersetzung ins Englische zeigt. © Bieke Depoorter/ Magnum Photos

Als einige Menschen die Bilder kommentiert hatten, begannen andere wiederum, diese Kommentare zu kommentieren. „So entstanden ganze Unterhaltungen über Religion, Kultur, Fotografie und manchmal auch Politik“, so Bieke. „Menschen, die sonst niemals miteinander sprechen würden, unterhielten sich durch die Bilder.“ Je mehr die Menschen schrieben, desto weniger sah man von den darunterliegenden Bildern. Beispiel: Das Porträt einer Frau begann unter einer hitzigen Debatte darüber zu verschwinden, ob es ethisch korrekt sei, dass ihre Arme unbedeckt sind.

Der nächste Schritt

„As It May Be“ ist Teil einer größeren Entwicklung für Bieke. Sie weigert sich, sich von den Konventionen der Fotografie einschränken zu lassen. Bei ihrem ersten Kurzfilm, Dvalemodus, führte sie 2017 zusammen mit dem Musiker Mattias De Craene Regie. Der Film wurde im norwegischen Dorf Skaland mit einer Canon EOS C100 Mark II aufgenommen, sodass sie ihre vorhandenen Objektive von Canon nutzen konnte. „Der Wechsel war ganz einfach“, sagt sie.

Der Film entstand, als sie den Winter im Rahmen eines Residenzprogramms in Norwegen verbrachte. „Skaland war ein sehr interessanter Ort. Die raue Natur und konstante Dunkelheit waren wirklich inspirierend. Ich habe versucht, die Porträts der Menschen und die Atmosphäre einzufangen, doch ich hatte das Gefühl, dass Einzelbilder dafür nicht ausreichten.“

Der neunminütige Film bewegt sich an der Grenze zwischen Fakt und Fiktion, Inszenierung und Beobachtung. Dabei sind die Einwohner von Skaland in Szenen zu sehen, die von ihrem täglichen Leben inspiriert sind. Der Film erzählt die Geschichte eines Dorfes, das immer von Finsternis umgeben ist. Er wurde bereits im Museum of Modern Art in New York gezeigt.

Trotz ihres Erfolgs als Filmemacherin hat sie nicht vor, der Fotografie ganz den Rücken zu kehren. Die Kraft, die der Fotografie innewohnt, zeigte sich bei einer ihrer Begegnungen in Ägypten. Den meisten Menschen aus ihren Serien in Ägypten, den USA oder Russland wird sie nie wieder begegnen. Doch bei Walla, einem jungen Mädchen, das sie im Jahr 2012 in Kairo fotografierte, machte sie eine Ausnahme.

Als sie im vergangenen Jahr wieder nach Kairo kam, beschloss sie, Wallas Familie zu besuchen. Sie war begeistert von der Wirkung, die das Foto auf die Familie hatte. „Ich hatte ihre Namen, ihre Telefonnummer und ihre Adresse verloren“, erinnert sie sich. „Ich wusste nur noch ungefähr, wo sie wohnten. Ich rahmte [einen Druck des] Bildes, ging dorthin zurück und fand sie auch. Ich werde unser Wiedersehen niemals vergessen. Sie waren so glücklich über das Foto und hängten es sofort auf. Das war ein schöner Moment.“

Verfasst von Rachel Segal Hamilton


Bieke Depoorters Ausrüstung

Die Ausrüstung, die Profis für ihre Fotos verwenden

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Kamera

Canon EOS 5D Mark IV

Diese Vollformat-DSLR mit 30,4 MP erfasst unglaubliche Details selbst bei extremem Kontrast. Reihenaufnahmen mit 7 Bildern/Sek. helfen dabei, den perfekten Moment abzupassen, während 4K-Video unglaublich hochauflösendes Filmmaterial liefert.

Objektiv

Canon EF 24-70mm 1:2,8L II USM

Dieses professionelle Standard-Zoomobjektiv bietet eine hervorragende Bildschärfe und robuste Qualität der L-Serie. Dank der konstanten Blende von f/2.8 können Sie herausragende Fotos selbst bei wenig Licht aufnehmen und die Schärfentiefe mit Leichtigkeit steuern.

Videokamera

Canon EOS C200

Ein professionelles Einstiegsmodell der Cinema EOS Serie mit 4K/UHD/50p, das Flexibilität und eine einfache Bedienung für Ein-Mann-Teams sowie qualitativ hochwertige Bild- und Tonqualität bietet.

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